Hagen Rudolph

Kurzgeschichten

Beispiel 1: Die Bank

Der Vierzehnte war ein goldener Novembertag. Seine Vielfalt an leuchtenden Farben diente der Seele als Wegzehrung für die folgenden, dunklen Wochen. Tief stand die Mittagssonne und goss ihr Licht über den flammend bunten Waldsaum. Frisch gefallene Blätter wirbelten im Rhythmus der Schritte raschelnd um meine Schuhe. Seltsam gewachsene Äste und der schwache Geruch modrigen Unterholzes ließen mich an Feen und Wichtel denken.

Umgeben von üppigem Herbstlaub, welches noch die Bäume schmückte, stand eine aus dicken Bohlen gezimmerte Bank. Von ihr aus – den Wald im Rücken – konnte man über den plätschernden Bach und die Wege entlang seiner Ufer sehen und weiter über die Felder bis zum nächsten Dorf.

Hier saßen sie oft, die beiden Alten. Er hielt einen Arm um sie gelegt. Ihre weißen Haare flossen um seine Schulter. Ihre Hände ruhten in seiner freien Hand auf dem Schoß. So saßen sie und lächelten und grüßten freundlich jeden Spaziergänger, Jogger, Radfahrer oder Reiter, der vorüber kam.

Manchmal unterhielten sie sich, wiesen einander auf kleine Sehenswürdigkeiten hin. Auf ein Eichhörnchen, welches die Buche empor huschte. Auf einen Vogel, der in einer Pfütze badete. Auf einen Hasen, der über das Feld hoppelte. Auf eine frisch geöffnete Blüte. Auf einen Zweig, den der Bach fort trug. Auf eine hübsche Wolke. Auf den abnehmenden Mond, der blass am Tageshimmel erschien. Oder sie sprachen über Gedanken und Erinnerungen.

Manchmal schwiegen sie und dachten dabei an ihre gemeinsam verbrachten Jahrzehnte und sie schauten sich an und lächelten und er zog sie ein wenig fester an sich und sie schmiegte ihren Kopf noch etwas inniger an seine Schulter.

Nachdenklich verweilte ich und blickte auf die seit längerem leeren Plätze. Wind rauschte in den Wipfeln. Leise segelten einige Blätter herab. Zwei von ihnen landeten nebeneinander auf der Holzbank …

Herbstlaub19

Beispiel 2: Stille Begegnung

Im Zug, auf der anderen Seite des Mittelganges, saß sie und gewann sofort seine Aufmerksamkeit. Ihr ernsthaftes Gesicht schien einiges gesehen zu haben. Dennoch leuchtete es hell wie ein sonnendurchglühtes Blatt. Ihre blonden Haare waren irgendwie zusammengerafft. Um ihre schmalen Schultern trug sie einen langen, grünen Schal. Dieses grob gewebte Tuch hatte sie wie einen besonderen Schutz um sich gewunden.

Sie erinnerte ihn an die Wiesen und Bäume vor seinem Haus. Filigran, fast durchsichtig wirkte sie und berührte etwas in ihm, ergriff ihn zart. Er hätte sie gerne in seine Arme geschlossen und fest gehalten. Immer wieder zog sie seinen Blick auf sich und er bemerkte, dass sie ihn ebenfalls oft anschaute. Aber keiner der beiden sagte etwas.

Der Zug war am Abend fast leer. Sie rollte sich auf ihren beiden Sitzen zusammen und schien zu schlafen, den Rucksack als Kopfkissen verwendend. Sehr gerne hätte er sie liebevoll gestreichelt … ihre Schulter, ihre schönen Haare.

Rechtzeitig vor der Endstation wurde sie munter.

Er musste umsteigen, wartete im kalten Wind auf den Anschlusszug. Im Bahnhofsgebäude erspähte er sie. Ruhig stand sie dort, in ihren breiten, grünen Schal gehüllt.

Im nächsten Zug war erneut viel Platz. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass sie es sich vier Reihen hinter ihm bequem machte. Sein Herz schlug höher. Es fühlte sich gut an, sie in der Nähe zu wissen.

Eine halbe Stunde später musste er zum letzten Mal umsteigen, stand auf, zog die Jacke an, warf seinen Rucksack über, kam an ihrer Sitzreihe vorbei und hielt behutsam inne. Wieder lag sie da, wie vorher, die Beine angezogen. Sie schien viel Müdigkeit in sich zu tragen.

Traurig stieg er aus. Ging am Waggon entlang, schaute ein letztes Mal nach ihr. Sie hatte sich inzwischen aufgerichtet und sah ihn durch die Scheibe an. Er blieb stehen. Blicke aus ernsten Augenpaaren begegneten einander. Was sie wohl denkt, fragte er sich. Die Idee keimte auf, umzudrehen, einzusteigen, sie anzusprechen. Doch er ließ es bleiben. Was, wenn sie sich belästigt fühlte? Was, wenn sie auf dem Weg zu ihrem Partner war? Außerdem musste er seinen letzten Zug nach Hause kriegen. Es war schon spät.

So riss er sich los, schritt wehmütig die Stufen hinab, durch den Tunnel, die Treppe hinauf zum anderen Bahnsteig, wo sein Zug bereits wartete. Er suchte sich einen Platz am Fenster. Vielleicht konnte er sie in der anderen Bahn einige Gleise weiter zwischen den vielen blauen Sitzlehnen entdecken … aber dies gelang nicht mehr.

Ihr Zug fuhr an und er hoffte, sie gleich auf dem Bahnsteig stehen zu sehen. Dann war ihr Zug verschwunden und die Sicht frei. Da stand niemand …

Und er schrieb ein kleines Gedicht für sie, welches sie nie lesen würde.

GESEHEN

Ich hab dich gesehen
Einen Ast weiter
Und ich fühlte mich
Tief berührt und heiter.

Du hast mich gesehen
Und wir beide schwiegen
Und dann musste ich
Heimwärts fliegen …