Hagen Rudolph

Der Fluch der Pyramide

Je kleiner in Japan das Unternehmen, desto niedriger der Verdienst. Ein steileres Lohngefälle droht auch in Deutschland

Seit etwa zehn Jahren befindet sich die deutsche Automobilindustrie in einem gewaltigen Umbruch. „Schlankere" Produktion hat bereits Zehntausende von Arbeitsplätzen gekostet. Bemühungen um massive Kostensenkungen griffen nicht nur auf andere Industrien, sondern auch auf den Dienstleistungssektor über. In dem Versuch, japanische Erfolgsrezepte nachzuahmen, wurden völlig neue Zulieferstrukturen geschaffen. Zudem geraten flächendeckende Tarifverträge von allen Seiten unter Beschuß.

Diese recht unterschiedlichen Trends können eine Entwicklung bewirken, die in Japan schon lange zu beobachten ist und nun auch in Deutschland Realität zu werden droht: ein zunehmendes Lohngefälle zwischen großen und kleinen Unternehmen; Dualisierung der Wirtschaft genannt. An Toyota, dem profitabelsten Unternehmen Japans, läßt sich dieser Prozeß beispielhaft nachzeichnen.

Während 1989 die durchschnittliche Bauzeit eines Pkw in Japan 16,8 Stunden betrug, stellt Toyota heute das allradgetriebene Freizeitfahrzeug RAV4 in zehn Arbeitsstunden her. Die Produktionskosten sollen um zehn bis dreißig Prozent unter denen herkömmlicher Modelle liegen. Der Wagen besteht aus einer minimalen Zahl von Teilen, von denen vierzig Prozent auch in anderen Modellen verwendet werden können. In der Endmontage sind diese so weit wie möglich vereinfacht. Zulieferer wurden verpflichtet, ihre Kosten von 1994 bis 1996 um fünfzehn Prozent zu senken.

Um trotz Rezession und steigenden Wechselkurses des japanischen Yen ein international konkurrenzfähiges Auto herstellen zu können, hat Toyota immer neue Montagearbeiten nach außen verlagert. Diese Strategie des outsourcing ist für den Konzern aus zwei Gründen sinnvoll:

  • Zulieferer, die bei Toyota rund siebzig Prozent aller Teile herstellen, sind pyramidenförmig organisiert. Toyota bildet die Spitze dieser Pyramide (keiretsu), und steht mit rund 170 Systemzulieferern, den sogenannten Zulieferern ersten Grades, in Verbindung. Diese bauen komplette Funktionssysteme zusammen, die zum Teil gemeinschaftlich mit Toyota enwickelt wurden. Komponenten dafür werden von insgesamt über 5000 Komponentenanbietern (Zulieferern zweiten Grades) erstellt. Diese wiederum erhalten ihre Materialien und Einzelteile von Teilefertigern (Zulieferern dritten Grades), deren Gesamtzahl in der Toyota-keiretsu 40.000 übersteigt.
  • Von oben nach unten sinkt in dieser Pyramide die Selbstständigkeit der Unternehmen, die Abhängigkeit vom Auftraggeber nimmt zu. Mit abnehmender Fähigkeit zu Eigenentwicklungen sinkt die Gewinnmarge. Die Unternehmen werden immer kleiner. Ausbildungs- und Lohnniveau der Mitarbeiter nehmen ab. Auf der untersten Stufe stehen zahllose Kleinst- und Familienbetriebe, die zu Niedrigstlöhnen arbeiten, aber auch Heimarbeiter – überwiegend Frauen, die neben der Hausarbeit zum Beispiel Kabel zusammenstecken.
Entscheidend für den Nutzen, den Unternehmen wie Toyota aus ihrer keiretsu ziehen, ist das Lohngefälle zwischen großen und kleinen Unternehmen. Neben Spezialisierungsvorteilen der Zulieferer ermöglichen gerade die niedrigen Löhne kleinerer Betriebe eine Senkung der Produktionskosten, indem die Produktionsvorgänge soweit wie möglich in der Hierarchie nach unten verlagert werden. Konsequentes outsourcing wird lediglich durch strategische Erwägungen und technologische Erfordernisse begrenzt.

Was bedeuten die japanischen Erfahrungen für Deutschland? Hierzulande ist der Umbau von Zulieferstrukturen nach japanischem Vorbild bereits weit vorangeschritten, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sich in den nächsten Jahren ähnliche Lohnunterschiede herausbilden.

In der Automobilindustrie zeichnen sich besonders dramatische Veränderungen ab. Nach Expertenschätzungen kann sich die Beschäftigtenzahl, die 1991 noch bei 780.000 und Mitte 1994 bei rund 580.000 lag, in den nächsten Jahren um weitere 300.000 reduzieren.

Um sich im weltweiten Wettbewerb behaupten zu können, sind deutsche Automobilhersteller gezwungen, ihre Herstellungskosten zu senken, was sich unter anderem mit einer Verringerung der Fertigungstiefe erreichen läßt. Es gibt eine Reihe von Gründen, die für das outsourcing sprechen:
  • Spezialisierte Zulieferer haben wichtiges Know-how über Fertigungsverfahren und Materialien.
  • Durch Fremdfertigung lassen sich die Investitionskosten senken. Anlagen, Personal und Flächen brauchen nicht bereitgestellt zu werden.
  • Zulieferer können größere Serien für mehrere Abnehmer kostengünstiger herstellen.
  • Die Komplexität des Fertigungs- und Materialflusses lässt sich reduzieren. Innerbetriebliche Abläufe werden überschaubarer.
  • Hinzu kommen strategische oder politische Gründe, zum Beispiel regionale Fördermaßnahmen oder Vorschriften einzelner Länder über den Anteil im eigenen Land herzustellender Teile.
So sind die Automobilhersteller dabei, eine Zuliefererpyramide nach japanischem Muster aufzubauen. Standen deutsche Firmen noch zu Beginn der neunziger Jahre zum Teil mit weit über tausend Lieferanten unmittelbar in Verbindung, so werden diese auf wenige hundert reduziert. Es bleiben einige Systemanbieter mit hohem Innovationspotential übrig, die technologisch anspruchsvolle, hochwertige Produktmodule und komplette Systeme herstellen. Diese werden, wie in Japan, von Komponentenanbietern oder Produktspezialisten beliefert, die ihrerseits bei kleineren Teilefertigern einkaufen. Je weiter unten ein Unternehmen in dieser Hierarchie steht, desto kleiner ist es in der Regel und desto einfacher sind die Produkte. Diese Firmen sind oftmals austauschbar und haben wenig Chancen, sich scharfen (Preis-)Vorgaben der Abnehmer erfolgreich zu widersetzen oder diese nach unten weiterzugeben.

Gerade kleinere Sublieferanten sind dem harten Wettbewerb relativ schutzlos ausgeliefert. Bereits der Verlust eines wichtigen Abnehmers kann das Ende des Betriebes bedeuten. Um jede Möglichkeit der Kostensenkung auszunutzen, können Teile der (oder die gesamte) Produktion in nahe gelegene Billiglohnländer ausgelagert werden.

Auch wenn es soweit nicht kommt: Allein die Androhung eines solchen Schrittes ist ein probates Mittel, um die Arbeitnehmervertreter mit ihren Forderungen zu disziplinieren. Dies wird durch den niedrigeren gewerkschaftlichen Organisationsgrad und die weniger professionelle Betriebsratsarbeit in kleineren Unternehmen erleichtert.

Somit könnte der Weg für ein künftig stärkeres Lohngefälle zwischen großen und kleinen Unternehmen geebnet werden. Während bislang Lohnsteigerungen durch flächendeckende Tarifverträge die jeweilige Branche relativ gleichmäßig trafen und somit wettbewerbsneutral waren, haben sich durch die Globalisierung der Wirtschaft und vor allem die neuen Billiglohnländer „vor der eigenen Haustür" die Spielregeln verschärft. Die derzeit von Arbeitgeberverbänden geforderte Abkehr von flächendeckenden Tarifverträgen zugunsten flexibler Lohnabschlüsse, welche die spezifische Leistungsfähigkeit des Betriebes berücksichtigen, kann dazu führen, daß kleine Unternehmen bei der Lohnentwicklung weit zurückfallen. Die besser organisierten Arbeitnehmervertreter in größeren, profitablen Unternehmen können unterdessen höhere Abschlüsse aushandeln: Die „Lohnschere" öffnet sich.

Zugleich werden immer mehr Arbeitskräfte zu Opfern der Rationalisierungen. Individuelle Tragödien verbergen sich dahinter. Die Zahl der Geringverdiener wächst. Soziale Probleme nehmen zu. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen sind noch nicht abzusehen.

Die Volkswirtschaftler sind sich uneins, ob steigende Einkommensunterschiede sich negativ auf Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum, und damit auf den Wohlstand einer Gesellschaft auswirken oder ob sie für ein Gleichgewicht am Arbeitsmarkt und für mehr Beschäftigung sorgen.

Es ist jedoch Aufgabe von Arbeitgebern und Gewerkschaften, aber auch von Wissenschaft und Politik, sich rechtzeitig die wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen der Dualisierung bewußtzumachen und gegebenenfalls gegenzusteuern.